Urteil des Oberverwaltungsgerichts zur Eigenentwicklung

Kleinere Ortsteile im ländlichen Raum mit in der Regel weniger als 2.000 Einwohnern sollen nach den einschlägigen Bestimmungen in den Landesentwicklungs- und Regionalplänen vor einer Zersiedelung geschützt und der dörfliche Charakter möglichst erhalten werden. In diesen sogenannten Eigenentwicklungsorten dürfen neue Baugebiete nur in einem solchen Umfang ausgewiesen werden, wie es zur Deckung des örtlichen Bedarfs erforderlich ist.[1]

Obwohl die der Allgemeinheit dienenden Ziele der Raumordnungspläne, wie Reduzierung des Flächenverbrauchs, Schutz der Natur, Schutz der dörflichen Strukturen, für jeden einsichtig sein dürften, wird in der Realität aus egoistischen Motiven auf kommunaler Ebene immer wieder gegen eben diese gut gemeinten Zielsetzungen verstoßen.

Dem Unterlaufen der Zielvorgaben im Hinblick auf die Eigenentwicklung hat das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen mit seinem Urteil vom 24. November 2021 erneut eine Absage erteilt.[2]

Die Richter des OVG sehen es im Interesse der Ziele der übergeordneten Regionalplanung als gerechtfertigt an, die Ausweisung zusätzlicher Siedlungsfläche in den nordrhein-westfälischen Eigenentwicklungsortsteilen  von einem plausiblen Nachweis des Bedarfs der ortsansässigen Bevölkerung oder zumindest einer belastbaren Prognose zur Bevölkerungsentwicklung abhängig zu machen. Eine belastbare Prognose ist nach Ansicht des OVG nur eine solche, die methodisch unbedenklich erstellt wurde und insgesamt plausibel ist. Dazu muss eine Eigenentwicklungsprognose auch in Erwägung ziehen, ob und in welchem Umfang gebrauchte Immobilien zur Deckung eines etwaigen Bedarfs zur Verfügung stehen beziehungsweise künftig zur Verfügung stehen werden.[3]

Das OVG hat den beklagten Bebauungsplan für unwirksam erklärt, da ein entsprechender Bedarf nicht aufgezeigt wurde.[4]

Dörfliche Entwicklung möglich

Ausdrücklich wird vom Oberverwaltungsgericht hervorgehoben, dass die Darstellung als Eigenentwicklungsortsteil im Regionalplan keineswegs ein allgemeines Bauverbot zur Folge hat. Auch die Ausweisung zusätzlicher Bauflächen ist möglich. Allerdings kommt eine „räumliche Entwicklung“ nur zur Deckung des Bedarfs der ansässigen Bevölkerung in Betracht, sofern er besteht.[5]

Lediglich die Teilnahme am „Wettbewerb um Einwohner“, durch den viele Kommunen den demografischen Veränderungen durch eine angebotsorientierte Ausweisung von überdimensionierten Siedlungsflächen auf der „grünen Wiese“ begegnen wollen, ist in Eigenentwicklungsortsteilen nach Ansicht des OVG ausgeschlossen.

Eine gegebenenfalls konkurrierende flächenmäßige Erweiterung dieser Ortsteile in der Hoffnung den Trend des Bevölkerungsrückgangs aufhalten zu können, würde das übergeordnete Ziel der Raumplanung, dem fortschreitenden Flächenverbrauch entgegenzutreten, zwangsläufig scheitern lassen.[6]

Rechtsverstöße kein Einzelfall

Aufgrund der nach wie vor landesweit verbreiteten Missachtung der raumordnerischen Bestimmungen zum Freiraumschutz nehmen Verstöße gegen die Regelungen der Eigenentwicklung ein Ausmaß an, wie es im deutschen Recht bislang wohl einmalig ist.[7]

Bereits 2013 hob das OVG NRW den Bebauungsplan „Königskamp“ im Eigenentwicklungsortsteil Alverskirchen auf, da die Gemeinde Everswinkel den Bedarf der ortsansässigen Bevölkerung nicht belegen konnte. Das OVG kam zu dem Ergebnis, dass im Ortsteil Alverskirchen in der Vergangenheit unter jahrzehntelanger Missachtung der Bestimmungen zur Eigenentwicklung in erheblichem Maße Baugrundstücke an nicht ortsansässige Interessenten verkauft wurden.[8]

„Der Ortsteil Alverskirchen ist insoweit kein Sonderfall“ stellten die Richter in ihrer Urteilsbegründung zur Aufhebung des Bebauungsplans „Königskamp“ fest. Vielmehr dürften die Überlegungen, zur Missachtung der einschlägigen Bestimmungen auf viele im Geltungsbereich des Regionalplans gelegene Gemeinden und ihre im Freiraum gelegenen Ortsteile zutreffen.“[9]

Berühmt durch fortgesetzten Rechtsbruch

Alverskirchen zählt beim Thema regionalplanerische Eigenentwicklung angesichts der „Königskamp-Historie“ inzwischen wohl zu den bekanntesten Dörfern des Landes.[10]

Trotz der klaren Aussagen des OVG im „Königskamp-Urteil“ verfährt die Gemeinde Everswinkel weiter nach dem Motto von Pippi Langstrumpf: „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“. So wurde trotz des seit einigen Jahren im Ortsteil Alverskirchen zu verzeichnenden Bevölkerungsrückgangs der „Königskamp“ inzwischen fast vollständig bebaut. Möglich wurde dies durch die Aufstellung zweier neuer Bebauungspläne. Mit Duldung durch die Bezirksregierung Münster, die nach wie vor keine Veranlassung sieht ihrer Aufgabe als „Hüterin des Regionalplans“ angemessen nachzukommen, hat die Gemeinde Everswinkel den vom OVG aufgehobenen Bebauungsplan „Königskamp“ ersetzt durch die Bebauungspläne “ Königskamp II“ und „Königskamp III“.[11]

Durch die erneute Außerachtlassung der zum Schutz der Natur und damit letztlich auch zum Schutz der Menschen aufgestellten Ziele der Raumordnung ist der „Königskamp“ inzwischen zur Chiffre geworden für den strukturellen Irrsinn im Umgang mit der Ressource Fläche.

Ausweitung der Naturzerstörung durch „Entfesselung“

Der Irrsinn soll im Ortsteil Alverskirchen zukünftig in erheblich größerem Stil fortgesetzt werden. Voraussetzung dafür ist nach Ansicht des Bürgermeisters und der Mehrheit der Kommunalpolitiker die „Befreiung von den Fesseln“ der regionalplanerischen Eigenentwicklungsbestimmungen.[12]

Da es in Anbetracht der demografischen Entwicklung für die Gemeinde Everswinkel immer schwieriger bzw. schlicht unmöglich sein wird durch eine ordnungsgemäße Prognose einen zusätzlichen Wohnungsbedarf für die ortsansässige Bevölkerung gerichtsfest zu belegen, soll der Ortsteil Alverskirchen zukünftig als regionalplanerische Siedlungsfläche deklariert werden.

Die Hoffnung, das Dorf Alverskirchen im Regionalplan Münsterland als Siedlungsbereich auszuweisen, um zukünftig noch ungenierter als bisher landwirtschaftlich genutzte Freiflächen mit dem Ziel der Stabilisierung der Bevölkerungsentwicklung als Bauland auszuweisen, ist jedoch in mehrfacher Hinsicht trügerisch.

Zum einen lässt sich der Bevölkerungsrückgang vor dem Hintergrund einer im gesamten Münsterland zukünftig schrumpfenden Bevölkerung durch zu Dumpingpreisen angebotenen Baugrundstücken auf der „grünen Wiese“ auch in Alverskirchen nicht mehr aufhalten. Der von der Gemeinde Everswinkel forcierte Ansatz der klassischen „Kirchturmpolitik“ ist daher in keiner Weise zielführend, ganz zu schweigen von den Folgen im Hinblick auf die soziale, wirtschaftliche oder gar ökologische Nachhaltigkeit.[13]

Bewerberliste unzureichend für Baugebietsausweisung

Zum anderen muss die Gemeinde Everswinkel nach einem am 01. Juli 2021 gefällten Urteil des OVG auch für die Ausweisung eines Baugebietes in einem Siedlungsbereich einen Bedarfsnachweis erbringen. Der sich aus dem Baugesetzbuch ergebenden Begründungspflicht bei der Inanspruchnahme landwirtschaftlicher Flächen als Siedlungsfläche ist mit dem Hinweis auf eine wie auch immer geartete „Bewerberliste“ keineswegs genüge getan.[14]

Das von der Gemeindeverwaltung in der Vergangenheit bei der Ausweisung von Baugebieten im Ortsteil Everswinkel praktizierte Verfahren, mit dem lapidaren Verweis auf eine vom Bürgermeister unter Verschluss gehaltenen ominösen Interessenliste neue Baugebiete am Ortsrand auszuweisen, stuft das OVG als eklatanten Verstoß gegen die Ziele der Raumordnung ein. Nach Ansicht des OVG erfüllt eine unverbindliche Bewerberliste auf die sich die Gemeinde Everswinkel bei der Ausweisung des Baugebietes Bergkamp III beruft, in keiner Weise die Begründungspflicht des Baugesetzbuches.[15]

Mehr Dorf für weniger Bürger

Der ökologischen Zerstörung der Münsterländer Parklandschaft mit der Begründung, die Zukunft des Dorfes stünde auf dem Spiel, wenn das nächste angebotsorientierte Baugebiet nicht realisiert wird, sollte rasch ein Ende bereitet werden und die quasi zur Gewohnheit gewordene Missachtung raumordnersicher Zielsetzungen der Vergangenheit angehören.

Für die Zukunftsfähigkeit des Dorfes Alverskirchen rückt ebenso wie für zahlreiche andere kleine Orte im ländlichen Bereich die Frage in den Focus, wie können wir mit den vorhandenen Potenzialen mehr Lebensqualität für die verbleibenden Bürger im Dorf schaffen.

Die Suche nach einem neuen Trick, um durch das Unterlaufen der Ziele der Raumordnung weitere Baugebiete auszuweiten, mit denen nicht nur die Natur sondern auch der dörfliche Charakter des Ortes zerstört wird, ist dabei gänzlich entbehrlich.

 

Links zu Urteilen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen:
OVG zur Eigenentwicklung:
Urteil vom 24.11.2021 – 7 D 105/19
OVG zum Königskamp:
Urteil vom 18.10.2013 – 10 D/11.NE.
OVG zur Unzulänglichkeit von Bewerberlisten:
Urteil vom 01.07.2021 – 10 D 92/19 NE.

 

[1] Siehe vertiefend im Glossar das Stichwort „Eigenentwicklung“.
[2] OVG NW, 7 D 105/19. NE, Urteil vom 24. November 2021.
[3] Ebenda, Randnummer 49.
Anmerkung: Das OVG nimmt hier Bezug auf das Urteil vom 18.10.2013 – 10 D/11.NE.
[4] Ebenda, Randnummer 53.
[5] Ebenda, Randnummer 43.
[6] OVG-Urteil vom 18.10.2013 – 10 D/11.NE, Seite 21.
[7] Nachhaltigkeitsbeirat der Landesregierung Baden-Württemberg: Neue Wege zu einem nachhaltigen Flächenmanagement in Baden-Württemberg, Sondergutachten Stuttgart 2004, Seite 25.
[8] OVG-Urteil vom 18.10.2013 – 10 D/11.NE.
[9] Ebenda, Seite 21.
[10] Siehe zur Historie des Baugebietes „Königskamp“ vertiefend weitere Beiträge auf dieser Homepage.
[11] Siehe vertiefend im Glossar das Stichwort „Bezirksregierung“.
[12] Stellungnahme des Bürgermeisters der Gemeinde Everswinkel in der Sitzung des Ausschusses für Wirtschaft Energie und Landesplanung am 15. Mai 2019.
Landtag Nordrhein-Westfalen, Ausschussprotokoll APr 17/635, Seite 10 f.
[13] Siehe vertiefend im Glossar das Stichwort „Kirchturmdenken“.
[14] OVG-Urteil vom 01.07.2021 – 10 D 92/19 NE.
Anmerkung: Wegen des Fehlens eines Bedarfsnachweises hat das OVG mit diesem Urtel einen Bebauungsplan der Gemeinde Schöppingen für unwirksam erklärt.
[15] Siehe vertiefend im Glossar das Stichwort „Bergkamp III“, hier insbesondere die Stellungnahme im Rahmen der 1. Offenlegung, Seite 3 bis 12.