Das Märchen von der Bürgerbeteiligung

„Der demografische Wandel wird auch bei uns in Everswinkel stattfinden, ob wir das wollen oder nicht. Wir werden weniger, älter und – je nach Zuwanderung – bunter.“ Mit dieser Aussage wies der damalige Bürgermeister Ludger Banken bereits 2005 auf gravierende veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen hin.[1]

Tatsächlich ist die natürliche Bevölkerungsentwicklung durch steigende Sterberaten und nach wie vor zu geringe Geburtenraten rückläufig. Weniger Zuzüge und mehr Fortzüge bestätigen den längst eingetretenen Wandel. Lediglich durch die Zuweisung von über 250 Flüchtlingen ist die Bevölkerungszahl seit 15 Jahren fast unverändert geblieben. Für eine nahezu konstante Bevölkerung wurden in diesem Zeitraum 893 zusätzliche Wohnungen errichtet[2].

Fiktive Zahlen als Zukunftsperspektive

Ein besonderes Augenmerk sollte deshalb laut ursprünglicher Bekundung des Bürgermeisters bei der Erstellung des „Gemeindeentwicklungskonzepts 2030“ auf Aspekte der Bewältigung des demografischen Wandels gelegt werden. Ohne vertiefende Auseinandersetzung mit den aktuellen Daten der letzten Jahre wird in dem nun vorgelegten Gemeindeentwicklungskonzept ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass Everswinkel in den nächsten Jahren auf bis zu 10.400 Einwohner wächst und bis zu 1.000 neue Haushalte mit Wohnungen, insbesondere mit Neubauten, versorgt werden könnten.[3]

Ausdrücklich wird betont, dass die vorgelegten Zahlen nicht als Prognose zu verstehen sind. Sie zeigen lediglich eine „wünschenswerte“ Entwicklung der Gemeinde auf, über die mit den Bürgern und den Kommunalpolitikern diskutiert werden sollte.

Kommunalpolitische Mehrheit gegen Bürgerbeteiligung

Immer wieder hatte die Gemeinde betont, dass die Bürgerinnen und Bürger „unverzichtbare Partner“ bei der Entwicklung eines Handlungskonzepts für eine „zukunftssichere Entwicklung der Gemeinde Everswinkel“ seien.[4]

Weder die Bürger noch die Kommunalpolitiker hatten jedoch Gelegenheit, die erst kurz vor der finalen Abstimmung vorgelegten „Wunschzahlen“ des Bürgermeisters zu erörtern. Ein Hinweis in den Medien und eine Veröffentlichung auf der Internetseite der Gemeinde hätten genügt, um auf die Schlussphase des Gemeindeentwicklungskonzepts hinzuweisen. Da kann auch Corona nicht als Entschuldigung herhalten.

Durch ihre mehrheitliche Zustimmung folgen die Kommunalpolitiker bedingungslos dem weiterhin vom Bürgermeister propagierten Wachstumsmythos.[5] Auch zukünftig soll laut Gemeindeentwicklungskonzept die Neubautätigkeit, unter anderem durch die Ausweisung neuer Siedlungsflächen und unter Inkaufnahme weiterer Naturzerstörung, auf dem bisherigen Niveau fortgeführt werden. Ob die Mehrheit der Bürger das will oder nicht, danach wird nicht gefragt. So geht Bürgerbeteiligung in Everswinkel.

Nur Bündnis 90/Die Grünen fordern Mitwirkung der Bürger ein

Lediglich die Vertreter der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen brachten ihre Empörung über das selbstherrliche Verhalten des Bürgermeisters zum Ausdruck.[6]

In der Sitzung des Ausschusses für Planung und Umweltschutz beantragten sie, das Gemeindeentwicklungskonzept zunächst lediglich zur Kenntnis zu nehmen und unter Einbeziehung eines weiteren Bürgerbeteiligungsverfahrens abschließend zu beraten. Erst nach einer gemeinsam mit den Bürgern durchgeführten Beratung der Ergebnisse sollte dann nach dem Willen von Bündnis 90/Die Grünen ein Beschluss im Gemeinderat gefasst werden. [7]

Unter Beachtung eines angemessenen Zeitrahmens hätten dann die Bürger und insbesondere die Kommunalpolitiker die Möglichkeit gehabt, sich zu dem Entwurf zu äußern. Alle Beteiligten hätten dann überprüfen können, ob sie sich mit den vorgestellten Leitlinien und Zielsetzungen identifizieren können und die Handlungsempfehlungen und Umsetzungsmaßnahmen als sinnvoll und ausreichend erachten.

Eins und eins sind in Everswinkel weiterhin drei

Eine Bürgerbeteiligung, insbesondere zur Thematik der demografischen Entwicklung Everswinkels erschien dem Bürgermeister und der Mehrheit der Kommunalpolitiker ganz offensichtlich zu risikobehaftet. Vielleicht hätte ja der ein oder andere Bürger eine intensive Auseinandersetzung mit den unaufhaltsam voranschreitenden Folgen des demografischen Wandels gefordert. Oder es wäre die Frage aufgetaucht, weshalb die Everswinkeler Bürger weiterhin glauben sollen, dass eins und eins gleich drei sind. Nichts anderes bedeutet es nämlich, wenn im Gemeindeentwicklungskonzept vor dem Hintergrund veränderter demografischer Rahmenbedingungen von einer stark anwachsenden Bevölkerung ausgegangen wird.

Dem Bürgermeister und der Mehrheit der Kommunalpolitiker fehlt erneut der Mut, den Menschen die Wahrheit zuzumuten. Dahinter steht ganz offensichtlich die Furcht, nicht wiedergewählt zu werden. Und sie ist berechtigt, da die Menschen jahrelang in dem Glauben gelassen wurden, es gehe immer so weiter wie bisher. Ein Teufelskreis des gegenseitigen Forderns und Vorgaukeln, obwohl alle es besser hätten wissen können. 

Zweifelhaftes Demokratieverständnis

„Wie wollen wir 2030 in Everswinkel leben?“ Für die Beantwortung dieser Frage reicht es nicht aus, sich von den Bürgern bei einigen sogenannten Ortspaziergängen erläutern zu lassen, wo in den nächsten Jahren noch die eine oder andere Ruhebank platziert werden könnte.

Für die Lebensqualität der Everswinkeler Bürger ist es viel wichtiger, mit den kommunalpolitischen Entscheidern darüber zu diskutieren, ob eine immer kleiner werdende Zahl von Einwohnern durch die Ausweisung immer neuer Baugebiete auch zukünftig auf eine immer größere Siedlungsfläche verteilt werden soll. Dabei drängt sich auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit der weiteren Naturzerstörung und der damit einhergehenden Verschlechterung durch immer weitere Einfamilienhausgebiete, in denen immer weniger Menschen wohnen, auf.

Diese Fragen wurden bei der Erstellung des Gemeindeentwicklungskonzepts in Everswinkel von Anfang an systematisch ausgeblendet. Erneut haben sich hier ein zweifelhaftes Verständnis von Bürgerbeteiligung und auch ein zweifelhaftes Demokratieverständnis offenbart.

 

Zum „Gemeindeentwicklungskonzept 2030“ siehe auch folgende Beiträge:

„Wunschkonzert“ entpuppt sich als Mogelpackung


Verfehlte Wohnungsbaupolitik erneut bestätigt

 

[1] Westfälische Nachrichten vom 20. Dezember 2015: „Chancen erkennen und nutzten.“ Demografische Entwicklung macht vor Everswinkel nicht Halt.
[2] Zur demografischen Entwicklung siehe auch den Beitrag „Everswinkel in der Demografiefalle“.
[3] Vgl. Gemeinde Everswinkel (Hrsg.): Gemeindeentwicklungskonzept 2030, ebenda, Seite 18.
[4] Gemeinde Everswinkel: Gemeindeentwicklungskonzept. Zukunft gemeinsam gestalten. Im Internet abrufbar unter: https://www.everswinkel.de/de/bauen-und-wohnen/wohnen/wohnen-gemeindeentwicklungskonzept.php
[5] In der gemeinsamen Sitzung des Bezirksausschusses Alverskirchen und des Ausschusses für Planung und Umweltschutz am 13. August 2020 wurde das „Gemeindeentwicklungskonzept 2030“ mehrheitlich beschlossen.
[6] Westfälische Nachrichten vom 15. August 2020: Grüner und noch lebenswerte. Kritik an schneller Verabschiedung.
[7] Gemeinsame Sitzung des Bezirksausschusses Alverskirchen und des Ausschusses für Planung und Umweltschutz am 13. August 2020.