„Wunschkonzert“ entpuppt sich als Mogelpackung

Es gibt kein solideres Planungsfundament für die Zukunft einer Gesellschaft als die demografischen Fakten. Daran kommt niemand vorbei. Denn nur wer geboren worden ist, kann drei Jahre später einen Kindergartenplatz beanspruchen, sechs Jahre später eine Schule besuchen und rund 20 Jahre später einen Ausbildungsplatz besetzen.[1]

Der demografische Wandel – weniger, bunter, älter – ist auch für die Gemeinde Everswinkel Fakt und daher unausweichlich. Die Zahlen liegen auf dem Tisch. Doch Verwaltung und Kommunalpolitiker weigern sich nach wie vor, angemessen und zielorientiert darauf zu reagieren.

Paradigmenwechsel

Insbesondere durch hohe Wanderungsgewinne war bis zur Jahrtausendwende die Everswinkeler Bevölkerungsentwicklung durch ein stetiges Wachstum gekennzeichnet. Seit Anfang der 2000er Jahre ist auch in Everswinkel die Zahl der Einwohner stagnierend und zunehmend rückläufig.[2] Mehr Sterbefälle als Geburten und weniger Zuzüge bei steigenden Fortzügen kennzeichnen den Paradigmenwechsel.

Die natürliche Bevölkerungsentwicklung wird in den nächsten Jahrzehnten weiter rückläufig sein, da die Sterberate jährlich um durchschnittlich 10 Personen über der jährlichen Geburtenrate liegt.[3]

In den vergangenen 15 Jahren war von 2004 bis 2019 durch geringer werdende Zuzüge und eine größer werdende Zahl von Fortzügen lediglich ein jährlicher Wanderungsgewinn von durchschnittlich 4 Personen zu verzeichnen.[4]

Verschärfung des Konkurrenzdenkens

Da auch alle umliegenden Kommunen vor dem Hintergrund tendenziell sinkender Bevölkerungszahlen versuchen werden, durch das Anlocken junger Familien ihre Wanderungsbilanz zu beeinflussen, wird sich die Konkurrenzsituation für Everswinkel weiter verschärfen.

Auch hier gibt die Analyse der Zahlen der Vergangenheit kein Grund zum Optimismus:

      1. In den vergangenen Jahrzehnten lagen zwischen Everswinkel und den benachbarten Städten und Gemeinden Ennigerloh, Sendenhorst, Telgte und Warendorf negative Wanderungssalden vor.[5]
      2. Mit dem übrigen Kreis Warendorf sowie den benachbarten Kreisen Coesfeld, Steinfurt und Borken ergaben sich ebenso negative Salden.[6]
      3. Während bis 2009 die Wanderungssalden mit der Stadt Münster positiv waren, ergab sich von 2010 bis 2016 auch hier ein Wanderungsdefizit.[7]
      4. Bei den großräumigen Wanderungsbewegungen gab es vor allem Wanderungsgewinne aus dem Ausland, insbesondere durch die Zuweisung von Asylbewerbern.[8]

Misslungener Versuch

Die vorstehenden Zahlen zeigen, dass der Versuch der Gemeinde Everswinkel, durch die Ausweisung immer neuer Baugebiete im Überbietungswettbewerb mit den Nachbarkommunen die immer drängender werdenden demografischen Problem lösen zu können, wenig erfolgreich war.

Im Gegenteil: Die Ausweisung von Baugebieten auf der „grünen Wiese“ hat zwar dazu geführt, dass in den vergangenen 15 Jahren die stolze Anzahl von 893 zusätzlichen Wohnungen errichtet wurde. Bei einer nahezu konstant gebliebenen Everswinkeler Bevölkerung bedeutet das aber lediglich, eine Verteilung der Einwohner auf eine immer größer werdende Siedlungsfläche. Immens steigende Infrastrukturfolgekosten für die Unterhaltung von z. B. zusätzlichen Straßen und Abwasserkanälen sind zukünftig von einer immer kleiner werdenden Zahl von Beitrags- und Steuerzahlern aufzubringen.

Transparente Informationen erforderlich

Erfolgreiche kommunale Zukunftsgestaltung setzt transparente Informationen über den demografischen Wandel voraus, die sowohl von den Kommunalpolitikern, als auch von den Bürgern nachvollziehbar sind.

Auch in Everswinkel sollte es möglich sein, die Auswirkungen des demografischen Wandels zu verdeutlichen und den zwingend erforderlichen Abschied vom Wachstumsmythos der Vergangenheit einzuleiten. Unter Einbeziehung der Bürger wird es dann auch gelingen, den demografischen Wandel unter dem Motto „Weniger ist Zukunft“, aktiv zu gestalten.[9]

„Lügen mit Zahlen“[10] statt Transparenz

Mit der Erstellung eines Gemeindeentwicklungskonzepts, das in erster Linie der Generierung von Fördermitteln dient, war ursprünglich angedacht, unter Beteiligung der Bürger auch ein besonderes Augenmerk auf Aspekte der Bewältigung des demografischen Wandels zu legen.[11]

Statt Bürgerbeteiligung und Auseinandersetzung mit relevanten Daten zum demografischen Wandel, präsentiert die Verwaltung dem Gemeinderat[12] sogenannte „Szenarien“, die ausdrücklich keineswegs als Prognosen zu verstehen sind, sondern die das Spektrum möglicher wünschenswerter Entwicklungen in der Gemeinde aufzeigen.[13]

Aus vier verschiedenen Vorschlägen können sich nun die Mitglieder des Gemeinderates ihr „Wunschszenario“ auswählen.

Während das „pessimistische“ Szenario I von einem Bevölkerungsrückgang bis 2035 um ca. 200 Einwohner ausgeht, unterstellt Szenario II unter Annahme eines jährlichen Wanderungsgewinns von 45 Personen einen Bevölkerungsanstieg auf 9.962 Personen. Szenario III geht sogar von jährlichen Wanderungsgewinnen in Höhe von 74 Personen aus, was zu einem Bevölkerungsanstieg auf 10.410 Einwohner führen würde. [14]

Im Szenario IV wird schlicht und ergreifend ein Zuwachs der Geburtenrate vorgeschlagen. Das spektakuläre Ergebnis wäre dann ein Bevölkerungsstand von 10.100 Einwohnern bis zum Jahr 2035.[15]

Wie stark die Geburtenrate ansteigen müsste, um das formulierte Ziel zu erreichen, wird ebenso wenig erklärt, wie der sprunghafte Anstieg der zukünftig unterstellten jährlichen Wanderungsgewinne.

Neben der Entscheidung, wie rasch die Bevölkerung in Zukunft anwachsen soll, haben die Kommunalpolitiker auch noch die Wahl beim Anwachsen der Zahl der Haushalte. Die vorgeschlagene Bandbreite geht hier von 4.300 bis 5.300 Haushalte. Nach der gewählten Anzahl der Haushalte richtet sich dann auch die Höhe der zukünftigen Neubauten.

Mogelpackung statt Bürgerbeteiligung

„Das als Anlage beigefügte Gemeindeentwicklungskonzept wird beschlossen“.[16] Eine eindeutige Aufforderung des Bürgermeisters an die Mitglieder des Gemeinderates.

Das zuvor als „Wunschkonzert“ in Sachen demografischer Entwicklung deklarierte „Gemeindeentwicklungskonzept 2030“ erweist sich spätestens bei der Abstimmung im Gemeinderat als „Mogelpackung“

Weder dem Beschlussvorschlag, noch den Ausführungen in der Verwaltungsvorlage ist zu entnehmen, dass eine Abstimmung über die vorgestellten Entwicklungsszenarien erfolgt. Die Kommunalpolitiker haben lediglich die Wahl, dem Gemeindeentwicklungskonzept zuzustimmen oder es abzulehnen.

Sinn eines Gemeindeentwicklungskonzepts sollte es sein, die Frage nach der „gewünschten“ demografischen Entwicklung im Rahmen einer breiten öffentlichen Diskussion zu erörtern. Die Szenarien können eine Grundlage für diese Diskussion sein, ersetzen können sie diese Diskussion nicht.[17] Mit der pauschalen Abstimmung für oder gegen das Gemeindeentwicklungskonzept, werden nicht nur die Bürger ihrer Mitwirkungsmöglichkeit beraubt.

Die Mitglieder des Gemeinderates folgen damit bedingungslos der vom Bürgermeister weiterhin propagierten Wachstumsideologie, die wie ganz selbstverständlich ihren Niederschlag im Gemeindeentwicklungskonzept gefunden hat, indem bei allen geplanten Maßnahmen von einer „zukünftig wachsenden Bevölkerung“ ausgegangen wird.[18]

Das kollektive Ignorieren von Fakten trägt allerdings kaum dazu bei, das Problem des demografischen Wandels zu lösen. Früher oder später werden auch diejenigen von der Wirklichkeit eingeholt, denen der Mut fehlt, die nachhaltigen und tief gehenden Veränderungen aktiv zu gestalten.

Link: Wanderungsstatistik Everswinkel

[1] Vgl. Köster, Winfried: Weniger, bunter, älter. Den demografischen Wandel aktiv gestalten, 2. überarbeitete und aktualisierte Auflage, 2011, Seite 11
[2] Vgl. Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (Hrsg.): Entwicklungstrends und –perspektiven im surburbanen Raum – eine Untersuchung am Beispiel der Gemeinde Everswinkel, 2013, Seite 8.
[3] Information und Technik Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Modellrechnung zur natürlichen Bevölkerungsentwicklung der Gemeinde Everswinkel von 2018 bis 2040 (Analysevariante).
Siehe hierzu auch : Everswinkel in der Demografiefalle
[4] Landesdatenbank NRW: Zu-/Fortgezogene über die Gemeindegrenzen nach Altersgruppen – Gemeinden – Jahr, abgerufen am 10. August 2020.
[5] Vgl. Kreis Warendorf (Hrsg.): Gut Wohnen im Münsterland – eine Macherregion mit Potential. Kommunalprofil Everswinkel, 2019, Seite 6.
[6] Vgl. ebenda, Seite 6.
[7] Vgl. ebenda, Seite 6.
[8] Vgl. ebenda, Seite 6.
[9] Vgl. Kösters, Winfried, ebenda, Seite 16.
[10] Vgl. Bosbach, Gerd und Korff, Jens Jürgen: Lügen mit Zahlen. Wie wir mit Statistiken manipuliert werden, 5. Auflage, 2011. Anmerkung: Die Formulierung wird hier als Synonym in Anlehnung an vorgenannten Buchtitel verwendet.
[11] Gemeinde Everswinkel (Hrsg.): Gemeindeentwicklungskonzept 2030. Integrierte energetische Quartierskonzepte für die Ortsteile Everswinkel und Alverskirchen, Berichtsfassung Juli 2020, Seite 1.
[12] Gemeinde Everswinkel: Anlage 1 zur Vorlage 043/2020 zur Sitzung des Gemeinderates am 19. August 2020.
[13] Vgl. Kreis Warendorf (Hrsg.), ebenda, Seite 3.
[14] Vgl. Gemeinde Everswinkel (Hrsg.): Gemeindeentwicklungskonzept 2030, ebenda, Seite 18.
[15] Vgl. ebenda, Seite 18.
[16] Gemeinde Everswinkel: Vorlage 043/2020 zur Sitzung des Gemeinderates am 19. August 2020.
[17] Kreis Warendorf (Hrsg.), ebenda, Seite 3.
[18] Gemeinde Everswinkel (Hrsg.) Gemeindeentwicklungskonzept 2030, ebenda, Seite 90.