Everswinkel setzt weiter auf „Entfesselung“

Losegelöst von raumplanerischen Zielsetzungen zum Flächensparen und ungeachtet veränderter demografischer Rahmenbedingen, setzt die Gemeinde Everswinkel mit der Ausweisung weiterer Baugebiete erneut auf den Weg der „entfesselten Nicht-Nachhaltigkeit“.

Mit der Entscheidung, am Ortsrand das Baugebiet „Bergkamp III“[1] auf der „grünen Wiese“ auszuweisen, folgen der Bürgermeister und die Mehrheit der Kommunalpolitiker nach wie vor der von der Nordrhein-Westfälischen Landesregierung propagierten „Entfesselung“ als Synonym für das Leitbild „Ökonomie vor Ökologie“.[2] Die Everswinkeler Entscheidungsträger wollen bei der Baulandausweisung die Kräfte des Marktes wirken lassen, was nichts anderes bedeutet, als auch zukünftig einem ungehemmten Flächenverbrauch Vorschub zu leisten.

Voraussetzungen für nachhaltige wohnungspolitische Entscheidungen

Für fundierte wohnungspolitische Entscheidungen werden üblicherweise Wohnungsbedarfsgutachten erstellt, die auf realitätsnahen Annahmen beruhen. Ein zukünftiger Wohnungsbedarf ergibt sich danach, wenn die Anzahl der benötigten Wohneinheiten am Ende eines Prognosezeitraums größer ist, als die Anzahl der Wohneinheiten am Anfang des Prognosezeitraums. Voraussetzung für eine seriöse Prognose des Wohnungsbedarfs ist, dass neben der in methodisch einwandfreier Weise ermittelten zukünftigen demografischen Entwicklung auch gesellschaftliche Veränderungen Berücksichtigung finden, die Einfluss auf die Haushaltsgröße[3] haben.

Ein umfangreiches Wohnungsmarktgutachten, aus dem Handlungsbedarfe aufgrund aktueller Entwicklungen für die Ausgestaltung der Wohnungspolitik für den Prognosezeitraum bis 2040 abgeleitet werden können, wurde soeben vom Nordrhein-Westfälischen Bauministerium vorgestellt (GEWOS-Gutachten).[4] Das Gutachten kommt für den Kreis Warendorf unter den getroffenen Annahmen zu dem Ergebnis, dass durchschnittlich jährlich 520 neue Wohneinheiten zur Deckung des zukünftigen Wohnungsbedarfs erforderlich sind.[5] Bisher wurden jährlich 1030 neue Wohneinheiten fertiggestellt.[6] Aktuell wird damit im Kreis Warendorf nahezu 100% über dem Bedarf gebaut.[7]

Das GEWOS-Gutachten kommt folgerichtig zu dem Ergebnis, dass in den kommenden Jahren der Fokus verstärkt auf die Bestandspflege und –entwicklung gelegt werden sollte, da eine zu hohe Neubautätigkeit den Leerstand im Bestand vergrößert.[8]

In einer fundierten Wohnungsmarktstudie ist insbesondere auch der Generationenwechsel im Einfamilienhausbereich zur berücksichtigen.[9] Der Prozess des Generationenwechsels umschreibt den alterungsbedingten Eigentümerwechsel am Wohnungsmarkt, der insbesondere in Kommunen mit einem relativ hohen Anteil der Altersgruppe 65+ in den nächsten Jahren zu einem stetig steigenden Angebot an Bestandsimmobilien führt.

In der Gemeinde Everswinkel trifft aufgrund des relativ hohen Altenanteils eine zukünftig wachsende Menge freiwerdender Häuser auf eine abnehmende Zahl nachfragender Haushalte.[10] Durch einen erfolgreichen Generationenwechsel, der durch Förderprogramme wie „Jung kauft Alt“[11] durch die Kommune forciert werden könnte, ließen sich nicht nur die Leerstände von morgen verringern, sondern auch der Neubau von Einfamilienhäusern signifikant reduzieren.[12] Das GEWOS-Gutachten belegt, dass im Einfamilienhausbereich ein Freisetzungspotential durch Generationenwechsel vorhanden ist, das die Nachfrage nach Einfamilienhäusern bis zum Jahr 2040 weit übersteigt.[13]

Wohnungsbedarfsgutachten versus Bewerberliste

Für eine an langfristiger Planungssicherheit orientierte und auf Nachhaltigkeit zielende kommunale Wohnungsbaupolitik, ist ein ortsspezifisches Wohnungsbedarfsgutachten unabdingbar.

Bürgermeister und Kommunalpolitiker, die sich vorwiegend auf die kurzfristige Befriedigung einer klientelorientierten Nachfrage fokussieren, scheuen allerdings eine fundierte Wohnungsbedarfsprognose „wie der Teufel das Weihwasser“.

In Everswinkel sahen der Bürgermeister und die Kommunalpolitiker für die Ausweisung des 6,2 ha großen Baugebietes „Bergkamp III“ keine Notwendigkeit für die Erstellung eines Wohnungsbedarfsgutachtens. Grundlage für den „Nachweis“ des künftigen Wohnungsbedarfs ist vielmehr eine von der Gemeindeverwaltung geführte Bewerberliste für Bauwillige. Stolz verkündete die Gemeinde, dass sich die Anzahl der Bewerber im Zuge des Aufstellungsprozesses des Bauleitplanverfahrens „von gut 200 zum Stand Vorentwurf, auf über 300 zum Stand Entwurf, 351 zur erneuten Offenlage bis zu 415 (Stand 30.09.2020) erhöht“ hat.[14]

Während sich der „Wohnungsbedarf“ in Everswinkel laut Bewerberliste von 2018 bis 2020 um 100% erhöhte, sank im gleichen Zeitraum die Zahl der Einwohner von 9.774[15] auf 9.726[16]. Ein Blick in die Statistik bestätigt, dass auch in der Vergangenheit die Bautätigkeit in Everswinkel in einem krassen Missverhältnis zur Bevölkerungsentwicklung stand. Allein von 2004 bis 2019 entstanden rund 900 neue Wohnungen, während die Zahl der Einwohner einschließlich der im Jahre 2015 zugewiesenen mehr als 200 Flüchtlinge gerade einmal um 125 stieg.[17]

Die vorstehenden Zahlen verdeutlichen, dass in Everswinkel wohl kaum von „Wohnungsnot“ die Rede sein kann. Entgegen der üblichen Behauptung, dass viel zu wenig Wohnungen gebaut werden, ist das Gegenteil der Fall.

Zwar wird als Begründung für die Ausweisung des Baugebietes „Bergkamp III“ angeführt, es diene „zur Deckung des örtlichen Wohnraumbedarfs“[18], tatsächlich geht es den politischen Entscheidungsträgern aber wohl eher um das Anlocken zahlungskräftiger Grundstückskäufer aus den Nachbarkommunen, die zu einem beträchtlichen Teil aufgrund geringer Rentabilität anderer Kapitalanlagemöglichkeien eher ein Anlageproblem, denn ein Wohnungsproblem haben.[19]

Mit einer beliebig erweiterbaren Bewerberliste für Grunstückskäufer statt eines fundierten Wohnungsbedarfsgutachtens, glaubt die Gemeinde Everswinkel den „belastbaren Bedarfsnachweis“[20] erbracht zu haben, um weitere Baugebiete am Ortsrand ausweisen zu können.[21] Das Instrument „Bewerberliste“ stellt für die Everseinkeler Kommunalpolitiker quasi ein Perpetuum mobile dar, das nach Belieben als Freibrief für die Fortsetzung der Naturzerstörung genutzt werden kann.

„Binsenweisheiten“ akzeptieren

Mit der lobbyistisch motivierten Forderung nach immer mehr Neubauten unterwerfen sich der Bürgermeister und die Mehrheit der Everswinkeler Kommunalpolitiker weiterhin dem sich aus dem Leitbild der „Entfesselung“ ergebenden „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“. Dabei bleiben Fragen nach den Folgen des immer weiteren „Zubetonierens“ der Flächen am Ortsrand außer Acht.

Boden ist kein vermehrbares Gut. Und die Zerstörung der Natur ist irreversibel. Diese „Binsenweisheiten“ gelten auch für Everswinkel.

Auch für Everswinkel sollte in Anbetracht der mittlerweile vor unserer Haustür wahrnehmbaren Klimaveränderungen statt „Entfesselung“ mehr denn je das Prinzip der Nachhaltigkeit Grundlage kommunalpolitischer Entscheidungen sein.

 

[1] Ausführliche Informationen zur Bauleitplanung „Bergkamp III“ finden sich im Glossar. Abrufbar unter: . https://alfred-wolk.de/lexikon/bergkamp-iii/
[2] Zum Thema „Entfesselung“ siehe: „Entfesselungspaket II – Landesregierung völlig mutlos“. Abrufbar unter: https://alfred-wolk.de/?s=Entfesselung
[3] Bei der Erstellung von Wohnungsbedarfsgutachten wird davon ausgegangen, dass jeder Haushalt eine Wohnung nachfragt. Da sich das Haushaltsbildungsverhalten im Laufe der Zeit verändern kann, müssen derartige Veränderungen berücksichtigt werden.
[4] Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen: Wohnungsmarktgutachten über den quantitativen und qualitativen Wohnungsneubaubedarf in Nordrhein-Westfalen bis 2040, September 2020 (erstellt durch GEWOS, Beratung, Planung, Forschung. Im Folgenden zitiert als GEWOS-Gutachten).
[5] Ebenda, Seite 34.
[6] Ebenda, Seite 30.
[7] Siehe hierzu auch den Beitrag zu den Ergebnissen der Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft: „Im Kreis Warendorf wird zu viel gebaut“. Abrufbar unter: https://alfred-wolk.de/lexikon/iw-studie/
[8] Ministerium für Heimat, Kommunales …, ebenda, 27.
Anmerkung: Der Wohnungsleerstand im Kreis Warendorf wird auf 5 bis 7% prognostiziert, ebenda, Seite 38.
[9] Ebenda, Seite 49.
[10] Vgl. „Everswinkel in der Demografiefalle“. Abrufbar unter: https://alfred-wolk.de/everswinkel-in-der-demografiefalle/#more-1567
[11] Vgl. Akademie für Raumforschung und Landesplanung: Ältere Einfamilienhausgebiete im Umbruch, Hannover 2018.
[12] Ministerium für Heimat, Kommunales …, ebenda, Seite 52.
[13] Ebenda, Seite 54.
[14] Gemeinde Everswinkel: Begründung mit Umweltbericht zum Bebauungsplan „Bergkamp III“, Dezember 2020, Seite 5.
[15] Gemeinde Everswinkel: Haushaltsplan 2021,Entwurf, Anlage 1, Einwohnerzahl am 31.12.2017.
[16] Ebenda, Seite 138, Stand 09. Oktober 2020.
[17] Vgl. Anmerkung 35 in: „Stellungnahme im Verfahren der erneuten öffentlichen Auslegung des Bebauungsplans Nr. 59 „Bergkamp III“ in der Zeit vom 30. Juni 2020 bis 29. Juli 2020“, abrufbar unter: https://alfred-wolk.de/wp-content/uploads/2020/07/Stellungnahme-Bergkamp-III-2020-07-28.pdf
[18] Gemeinde Everswinkel: Begründung mit Umweltbericht …, ebenda, Seite 7.
[19] Kopatz, Michael: Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten, September 2018,Seite 106.
[20] Gemeinde Everswinkel: Begründung mit Umweltbericht …, ebenda, Seite 5.
[21] Nach Aussage des Bürgermeisters strebt die Gemeinde Everswinkel „auch zukünftig die Ausweisung von Neubaugebieten sowohl in Alverskirchen als auch in Everswinkel“ an.
Vgl. Gemeinde Everswinkel: Haushaltsplan 2021,Entwurf, Seite 7.