Die Ausweisung zusätzlicher Siedlungsfläche im naturnahen Freiraum ist im Ortsteil Alverskirchen der Gemeinde Everswinkel nur möglich, wenn anhand einer belastbaren Prognose ein zusätzlicher Bedarf an Wohnraum belegt wird. Die erforderliche Wohnungsbedarfsprognose muss die Anforderungen der durch höchstrichterliche Rechtsprechung entwickelten Kriterien erfüllen.
Mit dem Gutachten „Wohnungsbedarf in Alverskirchen, Fortschreibung 2018“ unternimmt die Gemeinde Everswinkel den Versuch, trotz eines kontinuierlichen Bevölkerungsrückgangs den Bedarf für die Aufstellung des Bebauungsplans Nr. 58 „Königskamp III“ gegenüber der Bezirksregierung als zuständige Aufsichtsbehörde zu suggerieren.
Die Gemeinde Everswinkel hat dem Gutachter den Auftrag erteilt, folgende Untersuchungsfrage zu beantworten:
„Wie hoch ist der zukünftige Wohnungsbedarf der ortsansässigen Bevölkerung in Alverskirchen, der nicht im Wohnungsbestand gedeckt werden kann?[1]
Um diese Frage beantworten zu können, hat der Gutachter den jeweiligen Bevölkerungsstand mit Hilfe des sogenannten Mitgliederquotenverfahrens schematisch in Haushalte umgerechnet.[2] Die Grundlage der Bedarfsprognose bildet die Annahme, dass der Wohnungsbedarf eines Haushaltes regelmäßig durch eine Wohneinheit gedeckt wird. Eine Veränderung der Einwohnerzahl und/oder eine Veränderung der Altersstruktur führen dementsprechend zu einer Veränderung der Zahl der Haushalte.[3]
Die Differenz zwischen der Zahl der Haushalte zu Beginn und zum Ende des Prognosezeitraums ergeben einen zusätzlichen Wohnungsbedarf oder einen Wohnungsüberhang (= Wohnungsleerstände).
Wohnungsüberhänge in der Basisvariante „Minimale Eigenentwicklung“
Die Modellvariante „Minimale Eigenentwicklung“ bildet die Basisvariante zur Berechnung des zukünftigen Wohnungsbedarfs in Alverskirchen. In dieser Variante wird unterstellt, dass künftig keine Neubautätigkeit mehr stattfindet, die übrigen Eingangsparameter aber stabil bleiben.[4]
Nachfolgende Tabelle[5] zeigt die Veränderung des Wohnungsbedarfs aufgrund der Veränderung der Zahl der Haushalte in der Variante „Minimale Eigenentwicklung“ im Prognosezeitraum.
Da die Bevölkerung in dieser Variante im Prognosezeitraum um 149 Personen abnimmt, verringert sich folglich der Wohnungsbedarf. Der Rückgang des Wohnungsbedarfs in Folge der Reduzierung der Haushalte wird durch die Annahme abgemildert, dass es im Prognosezeitraum zu einer Verkleinerung der durchschnittlichen Haushaltsgröße kommt.[6]
Im Ergebnis wird in der Variante „Minimale Eigenentwicklung“ bis zum Jahr 2030 ein kontinuierlich ansteigender Wohnungsüberhang prognostiziert. Bis zum Prognoseende wird sich danach in Alverskirchen der Wohnungsleerstand um 27 Wohneinheiten erhöhen.
Prognosevariante „Trend mit Neubau“ erhöht ebenfalls den Leerstand
Die Variante „Trend mit Neubau“ schreibt die Entwicklung der Vergangenheit (Stützzeitraum 2012 bis 2016) unter Beibehaltung der bisherigen Parameter – wie z. B. Neubautätigkeit, Zu- und Abwanderungen – fort. Es wird hier insbesondere unterstellt, dass die Ausweisung weiterer Baugrundstücke wie in der Vergangenheit fortgesetzt wird. [7]
Wenn zukünftig in dem gleichen Umfang Neubauten errichtet werden, wie in dem vom Gutachter untersuchten Analysezeitraum, ergibt sich ein Wohnungsüberhang von 22 Wohneinheiten und die Bevölkerung wird sich bis 2030 auf 1.781 Einwohner verringern.
Vergleich der Modellvarianten
Ein Vergleich der Ergebnisse der beiden Prognosevarianten zeigt, dass beim „Trend mit Neubau“ die Schrumpfung der Alverskirchener Bevölkerung durch die Ausweisung weiterer Siedlungsflächen im Außenbereich um 17 Personen geringer ausfallen wird als bei „Minimaler Eigenentwicklung“. Die Bereitstellung zusätzlicher Bauflächen führt damit zwar zu einer weiteren Naturzerstörung und zu weiter ansteigenden Infrastrukturfolgekosten, der voranschreitende Bevölkerungsrückgang wird damit jedoch kaum beeinflusst.
Als Fazit einer ergebnisoffenen Wohnungsbedarfsprognose ist nach Analyse der beiden Modellvarianten „Minimale Eigenentwicklung“ und „Trend mit Neubau“ festzustellen, dass der Wohnungsbedarf der ortsansässigen Bevölkerung in Alverskirchen im bereits vorhandenen Wohnungsbestand gedeckt werden kann.
Die eigentliche Untersuchungsfrage[8] ist damit beantwortet: Zusätzliches Bauland muss nicht ausgewiesen werden.
Fiktive Einflussgrößen durch hypothetische Annahmen
Da Verwaltung und Kommunalpolitiker sich nach der Aufhebung des rechtswidrigen Bebauungsplans Nr. 52 „Königskamp“ im Oktober 2013 quasi „gezwungen“ sahen, das bereits erschlossene Plangebiet mit Hilfe mehrerer kleiner Bebauungspläne an den Markt zu bringen, handelt es sich ganz offensichtlich bei dem vorliegenden Wohnungsbedarfsgutachten nicht um eine ergebnisoffene Prognose.
Anspruch des Auftraggebers war es offenbar, einen Wohnungsbedarf „prognostiziert“ zu bekommen, der als Begründung für die Aufstellung des Bebauungsplans Nr. 58 „Königskamp III“ herangezogen werden kann.
Die beiden Prognosevarianten „Minimale Eigenentwicklung“ und „Trend mit Neubau“ führen im Ergebnis zu erheblichen Wohnungsüberhängen, die einer Zunahme von Wohnungsleerständen gleichzusetzen sind.[9] Als Grundlage für die Ausweisung weiterer Siedlungsfläche liefern die vorgenannten Modellvarianten somit nicht das erforderliche Ergebnis.
Durch die Berücksichtigung fiktiver Einflussgrößen wie „Bleibequote“ und „Wiederbelegungsquote“ und die Entwicklung verschiedener Hypothesen in Form von „Wenn-dann-Annahmen“ wird im Stile eines Iterationsverfahrens im vorgelegten Gutachten der „Wohnungsbedarf ermittelt“, der zur Bebauung des Plangebiets „Königskamp III“ ausreichend erscheint.
„Korrektur“ des Ergebnisses durch Einfügen einer Bleibequote
Der von Alverskirchener Bügern in der Vergangenheit vollzogene Wohnortwechsel in andere Kommunen veranlasst den Gutachter zu der nicht belegten These, die Fortzüge seien unter anderem erfolgt, weil nicht in ausreichendem Umfang Wohnungen in Alverskirchen zur Verfügung gestanden hätten. Ein Teil der erfolgten Abwanderungen wird deshalb in Form einer bisher in deutschen Wohnungsbedarfsgutachten nicht gekannten Größe, der sogenannten „Bleibequote“, berücksichtigt.
Mit anderen Worten: Ein Teil der in der Vergangenheit in den sogenannten „Nahbereich“ erfolgten Fortzüge wird als fiktiver zukünftiger Wohnungsbedarf im Ortsteil Alverskirchen angerechnet.
Der Gutachter setzt einen fiktiven Bedarf von 36 Wohneinheiten für die Umzüge von Alverskirchenern nach Everswinkel, Telgte und Sendenhorst (enger Nahbereich) und 19 Wohneinheiten für die Umzüge nach Drensteinfurt, Ahlen und Münster (erweiterter Nahbereich) an. Insgesamt gehen auf diese Weise 55 Wohneinheiten in Form der „Bleibequote“ als künftiger Wohnungsbedarf in die Prognose ein.
Anpassung an das Wunschergebnis durch „Leerstandsbereinigung“
Wesentliches Ergebnis der Basisvariante „Minimale Eigenentwicklung“ war die Erkenntnis, dass es zu einer stetigen Erhöhung der Wohnungsüberhänge in Höhe von mindestens 27 Wohneinheiten bis zum Prognoseende im Jahr 2030 kommt. Der Gutachter ist jedoch der Ansicht, dass 80% des prognostizierten Leerstandes nicht im Wohnungsbedarfsgutachten zu berücksichtigen sind. Er führt deshalb eine fiktive „Leerstandsbereinigung“ in Höhe von 22 Wohneinheiten durch.
Die nachfolgende Übersicht zeigt die schrittweise Veränderung des ursprünglichen Ergebnisses durch das Einfügen fiktiver Größen.
Berücksichtigung eines fiktiven Angebotspotenzials
Der auf rein spekulativen Annahmen beruhende Wohnungsbedarf in Höhe von 50 Wohneinheiten wird vom Gutachter um ein ebenfalls willkürlich angenommenes Angebotspotenzial in Form von Baulücken und Nachverdichtungspotenzialen sowie im Generationenwechsel zur Verfügung stehende Gebrauchtimmobilien in der Größe von 9 Wohneinheiten gekürzt.[10] Das Wohnungsbedarfsgutachten kommt schlussendlich zu dem Ergebnis, dass „bis 2030 rechnerisch der Neubau von bis zu 41 zusätzlichen Wohneinheiten auf auszuweisenden Neubaugrundstücken erforderlich“ ist.[11]
Unrealistische Annahmen führen zu fehlerhaftem Prognoseergebnis
Das vorgelegte Bedarfsgutachten geht von unrealistischen Annahmen aus und lässt Hinweise, die auf ein Ausbleiben der Bedarfsentstehung schließen lassen, außer Acht. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung führen unrealistische Annahmen zu fehlerhaften Prognoseergebnissen.
Ein auf einem fehlerhaften Prognoseergebnis beruhender Bebauungsplan ist folgerichtig unwirksam. [12]
[1] Gemeinde Everswinkel: Gutachten „Wohnungsbedarf in Alverskirchen, Fortschreibung 2018“ (im Folgenden: Gutachten 2018), Seite 4, (abrufbar unter: https://www.o-sp.de/everswinkel/plan?pid=38943).
[2] Vgl. ebenda, Seite 7.
[3] Vgl. ebenda, Seite 16.
[4] Vgl. ebenda, Seite 16.
[5] Ebenda, Tabelle A 6, Seite 35 und eigene Berechnungen.
[6] Anmerkung: Eine sich verändernde Altersstruktur in der Bevölkerung und die daraus folgende Verkleinerung der Haushalte reicht nach Ansicht des OVG NW nicht aus, um einen konkreten Bedarf der ortsansässigen Bevölkerung festzustellen. Vgl. Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18.10.2013, 10 D 4/11.NE, Seite 18.
[7] Vgl. Gutachten 2018, Seite 16.
[8] Vgl. ebenda, Seite 4.
[9] Vgl. ebenda, Seite 20.
[10] Vgl. ebenda, Seite 24.
[11] Ebenda, Seite 25.
[12] Vgl. Jochum, Georg Nikolaus: Amtshaftung bei Abwägungs- und Prognosefehlern in der Bauleitplanung, Münster, 1994, Seite 131.